9:10 – 10:40 PANEL I
Chair: BROOKE PENALOZA PATZAK (University of Vienna)
Link zur Videokonferenz Panel I
KURT SCHMUTZER (Austrian Broadcasting Corporation): Die Kiste – Naturwissenschaftliche Transporte zwischen Übersee und Wien
Naturforscher des 19. Jahrhunderts, die in entlegenen Weltgegenden reisen, haben ein Problem zu bewältigen, das entscheidend ist für Erfolg oder Misserfolg ihrer Unternehmung: den Transport ihrer gesammelten Objekte zu den jeweiligen Auftraggebern. Die Sicherheit der Materialien stellt angesichts oft monatelanger Transportwege auf Maultieren, Booten, Segelschiffen und Lastkarren eine logistische und praktische Herausforderung dar. Ohne Sammlung kein Museum, keine Forschung, keine Anerkennung für den Naturforscher. Die Transportkiste ist jenes ephemere Requisit, welches die Unversehrtheit der Sammlung gewährleisten soll. Um sie kreisen viele Überlegungen der Reisenden, sie ist die Arche, welche die im „Feld“ gesammelten Belege wissenschaftlicher Bemühungen schützen soll, bis zu jenem Augenblick, in dem die behüteten Stücke wieder in Forschungsmaterial im „Labor“ und Anschauungsobjekte im „Museum“ verwandelt werden. Das Beispiel Johann Natterers, Zoologe der österreichischen Brasilien-Expedition von 1817 bis 1835, dessen Briefe und Berichte rare Einblicke in die Praktiken eines reisenden Naturforschers geben, versucht, diesen Aspekt des Transfers von Sammlungen und Wissen näher zu beleuchten.
Kurt Schmutzer ist Archivredakteur des ORF und Historiker. Sein Interesse gilt naturwissenschaftlichen Reisen, besonders nach Brasilien.
NORA WURZINGER (Natural History Museum Vienna): Reisende Forscher – reiches Erbe: Über den historischen Bestand der Vogelsammlung am Naturhistorischen Museum Wien
Unter großen Entbehrungen erschlossen Forschungsreisende die Biologie der entlegensten Weltregionen, so gut es mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln möglich war. Sie verbrachten zahllose Objekte nach Europa, tauschten und beforschten sie und legten somit unverzichtbare Grundsteine der heutigen Biowissenschaften. Der Wandel der Zeit spülte sie an die unterschiedlichsten Orte, wobei die großen naturhistorischen Museen in Tring, Leiden, New York und Wien immer noch über reichhaltige Bestände verfügen.
Die Vogelsammlung des Naturhistorischen Museums in Wien umfasst etwa 130.000 Objekte, von denen derzeit erst etwas über 80.000 digitalisiert sind. Die Streuung ermöglicht dennoch bereits sinnvolle Auswertungen der Datenbank und gibt auch interessante Einblicke in die Zusammensetzung des Bestandes. 30–35 % der Objekte sind vor 1914 datiert und immerhin 11 % sind nur vier bekannten Sammlern zuzuordnen.
Wo aber sehen wir heute die Bedeutung dieser Objekte? Dienen sie auch der rezenten Wissenschaft, und wenn ja, auf welche Weise? Sind die kuratorischen Herausforderungen, vor die sie uns stellen, gerechtfertigt und wie gehen wir mit den ethischen Fragen, die sie aufwerfen, um?
Einige Ein- und Ausblicke anhand des reichen Erbes in der Vogelsammlung des Naturhistorischen Museums in Wien.
Nora Wurzinger, pensionierte Musikerin und EDV-Beraterin, ist am Naturhistorischen Museum in Wien mit der Digitalisierung der Bestände in der Vogelsammlung befasst.
MARCEL CHAHROUR (Museum Schallaburg): Knowledge and Practice on the Way: The Plaster Cast’s Journey Around the World
A critical attitude to orientalist styles of thinking has become a central tool in historical epistemology over the last 30 years. The (necessary) deconstruction of stereotypes and sociolinguistic networks of power has – in my impression – somehow overshadowed the immediate effects of this style of thinking on the actual process of scientific production in the period.
European academic medicine underwent a total change in perspective in the first half of the 19th century. Scientists (and physicians) shifted their focus from holistic towards localist explanations. Emerging from this process, “Western medicine” as a combination of knowledge and practice managed to push aside and/or marginalize most other medical systems all over the world.
As changes occurred, knowledge and medical practices were circulating between Europe and the region that is nowadays called the “middle east”. This knowledge and the related practices contributed to the development of a new “western” medical system. Very often, this process has been forgotten or actively neglected – and with it, the share that non-European medical systems had in the formation of a modern, western academic medicine.
The plaster cast (“Gipsverband”) is one of the most widely known methods of surgical treatment. The historiography of European medicine has a Dutchman, the military surgeon Antonius Mathijsen as its “inventor”. This paper is to show that the history of the development of this medical technique is far more complex and should not be told without the context of the circulation of knowledge that laid the basis for this development.
Marcel Chahrour is currently working in the cultural education department of “Schallaburg”, a major Austrian exhibition centre, and just finished a Ph.D. in the field of history of medicine with a special focus on Vienna’s relations with the “Orient”.